Bildungsbenachteiligungen erfassen und strukturiert angehen

Autor*innen

  • Peter Heidt
  • Berit Olschewski
  • Christine Kolbe
  • Maj-Britt Jungjohann

Moderation

Dominik Scholl, Heike Gleibs

Das Vorhaben in einem Satz

Wir brauchen Daten und geeignete Instrumente, um strukturelle Benachteiligungen im Bildungssystem anzugehen und bestehende Förderangebote gerecht und effektiv zu verteilen.

Ausgangslage und Vision

Ausgangslage der Arbeitsgruppe war das von der FDP formulierte Chancen-Aufholprogramm sowie Lern-Buddy-Programm. Diese wurden mit Expert:innen vertieft und Handlungsempfehlungen herausgearbeitet.

Durch die langen Schulschließungen während der Corona-Pandemie verschärft sich die ungleiche Verteilung von Bildungschancen. Das zeigen unter anderem Studien des DIPF und des ifo-Institutes. Kinder aus sozial benachteiligten Milieus sind vielfach Verlierer:innen dieser Pandemie. Daraus resultiert die Herausforderung, schnell und unkompliziert zu unterstützen und gleichzeitig strukturelle Ungleichheiten im Bildungssystem systematisch anzugehen.

Deshalb müssen auf kurze Sicht niedrigschwellige Unterstützungsmodelle, etwa in Anlehnung an die Coronahilfen, entstehen, die akute Bedarfe identifizieren und decken. Parallel sollten Daten erhoben und Instrumente geschaffen werden, die einerseits eine systematische Analyse von Bildungsungleichheiten ermöglichen und die andererseits psychische Folgen der Pandemie stärker in den Blick nehmen.

Das Vorhaben konkret

Es braucht ein Kooperationsgebot, statt -verbot. Das ist erforderlich, um das Handeln zwischen Bund, Ländern und Kommunen besser abzustimmen, damit die Unterstützung da ankommt, wo sie hingehört: bei den Schüler:innen, dem schulischen Personal und den außerschulischen Unterstützer:innen. Bund und Länder müssen Bildung ganzheitlich und vernetzt denken. Konkret sind insbesondere vier Handlungsebenen wichtig:

  • Kompetenzerhebung verbessern: Für eine evidenzbasierte Bildungspolitik braucht es verlässliche Daten, die Handlungsbedarfe sichtbar machen. Diese müssen geschaffen werden. Dazu können bestehende Instrumente reformiert (z. B. VERA, IQB-Bildungstrends) oder neue Ansätze entwickelt werden, die eine Vergleichbarkeit erlauben und Grundfähigkeiten der Schüler:innen länderübergreifend ermitteln. Besonders wichtig ist hier eine transparente Ausgestaltung, um die Nachvollziehbarkeit der Verfahren zu gewährleisten.
  • Daten bereitstellen: Um benachteiligten Lernenden effektiv helfen zu können, müssen (aggregierte, nicht personenbezogene) Daten über konkrete Bedarfe als Open Data zugänglich gemacht werden. So können unabhängige Institutionen Maßnahmen wissenschaftlich begleiten und Akteur:innen ihre Unterstützung zielgerichtet anbieten.
  • Flexible Schulen ermöglichen: Es gibt bereits zahlreiche Akteur:innen, die sich auf die Begleitung benachteiligter Lernender spezialisiert haben. Um zu helfen, müssen die Verknüpfung von schulischen und außerschulischen Bildungsangeboten strukturell verbessert und Schnittstellen geschaffen werden. Insbesondere strukturell benachteiligte Schulen brauchen hier organisatorische Hilfe, die - zumindest zeitweise - durch bestehende Anbieter übernommen werden kann. Vergaben müssen unbürokratisch organisiert sein und in der Entscheidungshoheit der Schulen liegen.
  • Coronabedingte Schnellhilfe bereitstellen: Die Fördermaßnahmen des Aktionsprogramms “Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche”, das von der Bundesregierung beschlossen wurde, müssen unkompliziert und niedrigschwellig zur Verfügung gestellt werden, um auf dringende Bedarfe in der Lernhilfe schnell zu reagieren. Das Aktionsprogramm ist vage in Bezug auf die genauen Empfänger:innen der Finanzierung. Es ist wichtig, dass hier die zahlreichen bestehenden Programme mitgedacht sowie bestehende Beziehungen und Strukturen gestärkt werden.
  • Langfristige Förderung non-formaler Lernräume: Um die kurzfristig angelegte Wirkung von Schnellhilfen zu verstetigen, braucht es ein Konzept zur gezielten Bekämpfung struktureller Benachteiligungen. Für den Erfolg ausschlaggebend ist eine langfristig angelegte Förderstruktur. Insbesondere non-formaler Bildung, mit ihrer Nähe zu diversen Lebenswelten und dem Fokus auf lebenslanges Lernen, sollte hierbei eine zentrale Funktion zukommen. Dazu zählen zahlreiche an Schulen angedockte oder außerschulische Bildungsprogramme, aber auch dritte Lernorte wie Makerspaces, die Freiräume ermöglichen.

Beispiele

Es gibt bereits Programme, die auf diesem Feld aktiv sind. Folgende Programme standen der Arbeitsgruppe bei der Ideenentwicklung als Gesprächspartner:innen zur Verfügung:

  1. Lern-Fair: Die Plattform “Lern-Fair” von “Corona-School e. V.” unterstützt Schüler:innen durch eine virtuelle Lernbetreuung bei der Bearbeitung von Unterrichtsinhalten und Hausaufgaben. Der Verein vermittelt den Kontakt zu ehrenamtlich tätigen Studierenden, die Schüler:innen kostenlos in verschiedenen Fächern per Video-Chat unterstützen.
  2. Teach First: “Teach First Deutschland” ist eine gemeinnützige Bildungsinitiative mit dem Ziel, die Chancengerechtigkeit im Bildungswesen zu verbessern. Dafür werden Hochschulabsolvent:innen aller Studienrichtungen für zwei Jahre an Schulen in „sozialen Brennpunkten“ im Unterricht und außerunterrichtlich als zusätzliche Kräfte tätig und unterstützen Schüler:innen besonders bei Übergängen zwischen Schulformen und bei Abschlüssen.
  3. Education Y: Im Verbund der zentralen Bildungsinstitutionen Kita, Schule, Familie und Hochschule entwickelte die Organisation in den Handlungsfeldern Schule, Familie, Kita und Hochschule vier Programme – buddY, familY, mY Kita und studY. Das Ziel des Vereins ist es, die Kompetenzen und Potenziale von Kindern und Jugendlichen zu fördern.

Potenziale und Hürden

Das hier formulierte Vorhaben soll langfristig Ungleichheiten von Bildungschancen aufdecken, sodass eine Förderung passgenau und bedarfsgerecht erfolgen kann. Durch einen Methodenmix verschiedener bestehender Angebote und die Etablierung unkomplizierter Fördermöglichkeiten können kurzfristig unterentwickelte Kompetenzbereiche aufgeholt werden.

  • Noch fehlen strukturierte Daten, die unterentwickelte Kompetenzbereiche bei Lernenden landes- oder bundesweit sichtbar machen. Hier braucht es eine Reformierung von Erhebungsverfahren und mehr Zusammenarbeit mit der Wissenschaft.
  • Neben diesen vergleichenden Daten zu Lernrückständen sind offene Instrumente für die Individualdiagnostik erforderlich, die kurzfristig für das Lehrpersonal nutzbar sind und deren Methodik datenschutzfreundlich und transparent gestaltet ist. Diese sollten besonders im unteren Leistungsbereich differenzieren.
  • Nachholbedarf besteht nicht nur im Bereich von fachlichen Lerninhalten. Für die Felder soziales Lernen und psychische Gesundheit sollten ebenfalls niedrigschwellige Beratungs- und Unterstützungsangebote für Schüler:innen und Eltern angeboten werden.

Auch wenn seit Anfang August Bundesmittel für das bereits erwähnte Aktionsprogramm “Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche” beschlossen wurden, bleibt das systemische Problem der langfristigen Förderung - hier muss nachgebessert werden. Akteur:innen vor Ort (Schulen, Vereine, Stiftungen) sollten möglichst unbürokratisch und nachhaltig unterstützt und finanziert werden, um Bildungs- und Freizeitangebote langfristig zu ermöglichen, ohne dass sie durch administrativen Mehraufwand im “Förder-Stop-and-Go” verharren. In den Fokus muss auch die Frage genommen werden, wie Kinder und Jugendliche, die den größten Bedarf haben, de facto erreicht werden. Auch sollte der bisherige Verteilungsschlüssel reformiert und sich am Förderbedarf oder der sozialen Lage der Schüler:innen orientiert werden. Denn Ungleiches ist ungleich zu behandeln, um Bildungsbenachteiligung wirksam zu bekämpfen.

Weitere Arbeitsgruppen aus 2021